Der Fall Julia beschäftigte vor 14 Jahren nicht nur die Justiz, sondern auch Karin Skib.
Für sie war der Mord an dem Mädchen in Biebertal der erste große Kriminalitätsfall, mit dem sie es in ihrem Ehrenamt zu tun bekam. Die Wieseckerin leitet seit 2001 die Gießener Außenstelle der bundesweiten Opferhilfeorganisation WEISSER RING. Anlässlich des "Tags der Kriminalitätsopfer"am vergangenen Dienstag ist sie unsere Gesprächspartnerin im Interview der Woche.
Von Guido Tamme
Frau Skib wie sind Sie zum WEISSEN RING gestoßen?
Karin Skib: Das war reiner Zufall. In irgendeinem Blättchen hatte ich im Jahr 2000 gelesen, dass die heimische Gruppe zu wenig Mitstreiter hat. Und da ich mich schon immer für alles interessiert hatte, was mit Kriminalität zu tun hat, habe ich mich angeschlossen. Ich hatte nach der Geburt unseres Sohnes mein Berufsleben nicht wieder aufgenommen, sondern lediglich befristete Arbeitsverhältnisse angenommen und deshalb Zeit übrig für ein Ehrenamt.
Und ein Jahr später waren Sie bereits die Vorsitzende der Außenstelle Gießen?
Skib: Ja, der damalige Vorsitzende musste krankheitsbedingt aufhören und ich war die mit Abstand Jüngste. Da habe ich mich überreden lassen und bin ins kalte Wasser gesprungen, weil ich nicht wollte, dass die Gruppe sich auflöst.
Wie ging es los?
Skib: Ich habe mich erst einmal richtig in die Öffentlichkeitsarbeit hineingehängt. Es stellte sich heraus, dass die Gruppe in Gießen kaum bekannt war, weil sie von Lich aus geleitet worden war. Inzwischen ist der WEISSE RING in Gießen bestens vernetzt, nicht nur mit der Polizei, sondern etwa auch mit Wildwasser, Frauenhaus, Versorgungsamt und Gießener Hilfe.
Was ist die Hauptaufgabe des WEISSEN RINGS?
Skib:Ganz klar die Opferarbeit. Das bedeutet, dass wir den Opfern von Kriminalität menschlichen Beistand leisten. Wir begleiten sie, etwa bei ihren Zeugenaussagen vor Gericht oder beim Gang zu Ämtern, und helfen Ihnen beim Ausfüllen eines Opferentschädigungsantrags für das Versorgungsamt.
Leisten Sie auch psychologischen Beistand?
Skib:Nein, das können und wolle wir nicht. Wenn wir einen Bedarf sehen, leiten wir die Betroffenen weiter zur Gießener Hilfe oder direkt an Psychologen.
Gibt es auch eine finanzielle Hilfe für Kriminalitätsopfer?
Skib: Ja, für Bedürftige kann es direkte Zuwendungen geben. Dazu kommen Schecks für eine kostenlose Erstberatung bei Rechtsanwälten und Therapeuten sowie die Übernahme von Verfahrenskosten.
Woher kommen diese Mittel?
Skib: Das benötigte Geld kommt über die Bundesgeschäftsstelle in Mainz. Wir als Außenstelle Gießen geben viel mehr Geld aus, als durch Spenden und bei einem Beitrag von 2,50 Euro im Monat von den knapp220 Mitgliedern hereinkommt.
Wie viel Geld wurde beispielsweise im Vorjahr ausgegeben?
Skib: Hauptposten waren die rund 20.000 Euro Opferhilfe sowie 31 Beratungsschecks im Wert von 8.525 Euro.
Wie viele Opfer hatten sich an den WEISSEN RING gewandt?
Skib: Im vergangenen Jahr waren es 125. 69 von ihnen wurden von Mitarbeitern besucht und persönlich betreut. Den anderen 56 konnte bereits mit einer telefonischen Auskunft weitergeholfen werden. Dazu kommen Betroffene, mit denen wir über Jahre immer wieder in Kontakt sind.
Führen Sie auch Buch über die Verteilung der Delikte, mit denen die Außenstelle zu tun bekommt?
Skib: Ja, 2015 am häufigsten waren sexueller Missbrauch und schwere Körperverletzung. Auch Stalking, häusliche Gewalt, Diebstahl und Raubüberfall mit Körperverletzung kommen immer wieder vor.
Wie viele aktive Mitstreiter haben Sie?
Skib: Im Moment sind wir nur zu fünft. Insgesamt waren wir rund 2000 Stunden ehrenamtlich im Einsatz. Viel in der Opferarbeit, aber auch bei Vorträgen zur Darstellung des WEISSEN RINGS bei interessierten Institutionen oder an Informationsständen.
Das klingt, als könnten Sie Verstärkung gebrauchen.
Skib: So ist es. Wir würden uns über neue Helfer sehr freuen, zumal die aktiven nicht jünger werden.
Was muss man denn mitbringen, um sich im WEISSEN RING zu engagieren?
Skib: Das Wichtigste ist große Empathie Menschen gegenüber. Wir besuchen sie zu Hause und da muss man sich manchmal auf ungewöhnliche Situationen einstellen. Berufliche Vorkenntnisse sind nicht von Belang.
Werden die Mitarbeiter auf ihre Aufgaben vorbereitet?
Skib: Natürlich. Es beginnt mit einem Einführungsseminar des Landesverbandes über ein Wochenende. Danach gehen die Neuen erst einmal mit erfahrenen Helfern mit, um zu prüfen, ob das wirklich etwas für sie ist. Wenn ja, nehmen sie an einem Aufbauseminar teil und später können sie sich bei Seminaren mit speziellen Themen vertraut machen. Aber es ist natürlich viel Learning by Doing dabei. Ich führe außerdem oft persönliche Gespräche mit den Helfern.
Wie werden die Opfer von Straftaten eigentlich auf den WEISSEN RING aufmerksam?
Skib: In aller Regel über die Stellen, mit denen wir gut vernetzt sind. Aber auch über Bekannte oder das Internet.
Kommt es auch vor, dass Sie von sich aus aktiv werden?
Skib: Eigentlich nicht. Ich habe das einmal bei einem Mordfall gemacht, über den ich in der Zeitung gelesen hatte. Da habe ich über den Anwalt, der einen Verwandten des Opfers vertrat, meine Hilfe angeboten. Wir sind dann auch tatsächlich zusammengekommen.
Gibt es auch Fälle, in denen Sie Ihr ehrenamtliches Engagement besonders mitnimmt?
Skib: Ja natürlich. Besonders bei Mordfällen. Ganz schlimm war es zum Beispiel bei dem Mord an der kleinen Julia in Biebertal. Da habe ich den ganzen langen Strafprozess an jedem Verhandlungstag im Gericht verfolgt, um dem Vater bei Bedarf zur Seite stehen zu können, und auch zwischendurch mit ihm telefoniert.
Entstehen da auch persönliche Kontakte?
Skib: Mitunter: Mir schreiben zum Beispiel heute noch die Eheleute, deren Tochter von ihrem eifersüchtigen Ex-Freund erstochen wurde, vor ihren Augen. Darüber freue ich mich sehr. Einmal stand auch eine Frau, die ich in einem ganz üblen Stalking-Fall betreut hatte, mit einem blau geschlagenen Gesicht nachts verprügelt vor meiner Haustür. Ich konnte ihr bei der Bewältigung helfen, aber ihr Berufsleben war ruiniert.
Geht es immer nur um Taten, die im heimischen Raum verübt wurden?
Skib: Nein, der WEISSE RING arbeitet übergreifend mit anderen Außenstellen zusammen. Manchmal begleiten wir Opfer, die Angst vor dem Täter haben, hier in Gießen zu Prozessen, weil die Tat hier geschehen ist, sie aber inzwischen in einem anderen Bundesland leben und dort von einer Außenstelle betreut werden. Wir nehmen sie am Bahnhof in Empfang, begleiten sie und bringen sie sicher wieder zurück.
Lesen Sie Zeitung jetzt anders als früher?
Skib: Klar. Ich bin da jetzt anders sensibilisiert. Früher habe ich bei Berichten über Gerichtsverhandlungen in der Zeitung nur die Überschrift gelesen. "O Gott, o Gott" gedacht und dann weitergeblättert. Jetzt lese ich das gründlich durch.
Hat sich aufgrund Ihrer Erfahrungen Ihre Einstellung zur Kriminalität geändert?
Skib: Ja, ich bin jetzt insgesamt vorsichtiger und warne auch andere schon einmal vor Gefahren, die sie nicht sehen oder für vernachlässigbar halten.
(Bericht: Gießener Allgemeine: 24.03.2016)